Als des Landes natürliche Achse, als den westfälischen Strom und als Schicksalsfluß der Roten Erde hat man die Lippe bezeichnet. Tatsächlich ist sie eine natürliche Achse, die bei den territorialen Einzelbildungen als Grenze und im Wachstumsprozeß der Mundarten als Sprachscheide in den Vordergrund trat. Von der Zeit der Marsen und Brukterer bis zu den Panzerkämpfen und Tieffliegerangriffen des letzten Krieges spannt sich die klirrende Kette der Gefechte und Schlachten, in denen um den Besitz der Lippe und ihrer Ufer, ihrer Brückenköpfe und ihrer Mündung gerungen wurde. Wenn die Lippe siedlungsmäßig und wirtschaftlich nicht zu der Bedeutung eines Stromes höherer Ordnung aufsteigen konnte, wenn sie im Westostverkehr durch den Hellweg in ihrer Bedeutung geschwächt wurde, so liegt das zum großen in dem unzureichenden Wasserstand begründet.
Dennoch wurde die Bedeutung der Lippe als natürliche Wasserstraße schon von den Römern erkannt. An ihren Ufern legten die Eroberer ihre Castelle an, ihr Lauf bestimmte die Richtung der Vormarschstraßen in das Innere Germaniens und auf ihren Wellen trugen die Schiffe schon Kriegsgerät und Verpflegung für die Stützpunkte und die kämpfende Truppe heran. Man glaubt teilweise, daß römische Schiffe sogar bis nach Neuhaus bei Paderborn gekommen sind. Zur Zeit des Bataveraufstandes im Jahre 68 n. Chr. wohnte in einem Turm an der oberen Lippe die Seherin Veleda. Sie sagte den Germanen Kriegsglück und Vernichtung der römischen Legionen voraus. Ein erbeutetes Admiralsschiff soll ihr zum Geschenk gemacht worden sein.
Karl der Große marschierte bei seinen Unternehmungen gegen die Sachsen nicht an der Lippe entlang, sondern bevorzugte den in zwanzig Kilometer Entfernung parallel verlaufenden Hellweg. Immerhin läßt die Anlage der Karlsburg an der oberen Lippe erkennen, daß der Kaiser bestrebt war, den Fluß als Transportweg zu benutzen.
An den Ufern der jungen Lippe
Es hat im Laufe der Jahrhunderte nicht an Versuchen gefehlt, die Lippe zu einer Wasserstraße größerer Bedeutung auszubauen. Hinderlich waren der erwähnte niedrige Wasserstand, die Stromschnellen, die Lippemühlen, wie auch die Eigenschaft des Flusses als Grenze zwischen Territorien und Territorialherren, die sich oft feindlich gegenüberstanden. Zwischen 1100 und 1150 scheint die Lippe wenig befahren worden zu sein. Die anliegenden, wie auch die nicht weit entfernten westfälischen Städte hätten es begrüßt, wenn der Fluß für die Beförderung von Massengütern dauernd benutzbar gewesen wäre. Immerhin herrschte im Mittelalter auf der Lippe einiger Schiffsverkehr. In Dorsten bestand 1462 ein Kurfürstlich Kölnischer und ein städtischer Lippezoll. Die Soester wollten 1486 von ihrer Stadt bis zur Lippe einen „Strom" anlegen, der Schiffe von zehn bis zwölf Lasten befördern und die Verbindung über Wesel nach den Niederlanden herstellen sollte. Der Plan blieb jedoch in den Anfängen stecken.
Die Bemühungen der münsterschen Fürstbischöfe Ferdinand, Maximilian und Christoph Bernhard kamen wegen der kriegerischen Wirren nicht zur Durchführung. Fürstbischof Ferdinand verfolgte 1627, also mitten im Kriege, die Absicht, den Lauf der Lippe zu verbessern, um das Werler Salz besser absetzen zu können. Diesen Plan nahm der Landgraf Wilhelm V. von Hessen anno 1633 wieder auf. Er tat es, um den beiden Festungen Dorsten und Lippstadt eine bessere Zufuhr zu sichern. Dann versuchte 1646 die Stadt Hamm, den Kurfürsten für die Schiffbarmachung der Lippe zu gewinnen.
Den Bemühungen der Freiherren vom Stein und von Vincke ist es zu verdanken, daß Preußen den Plan der Lippekanalisierung genehmigte und unterstützte. Vincke reichte schon 1812 eine Denkschrift ein, 1817 erließ der preußische Minister der Finanzen und des Handels eine „Strom- und Uferordnung für den Lippefluß". Im Vorjahre hatten preußische Beamte den Fluß befahren, Vincke faßte mit Eingaben und Denkschriften nach, und als die Schleusen eingebaut waren, verkehrten seit 1818 Lippeschiffe von 75 Fuß Länge und 13,5 Fuß Breite von Lippstadt bis Lünen. Im Jahre 1819 begann die regelmäßige Fahrt auf der regulierten Lippe 1829 wurde mit der Anlage eines Kanals in Lippstadt begonnen. Nach der Denkschrift von Vinckes vom 18. Juni 1818 sollten befördert werden stromab: Salz, Holz, Getreide, Wolle, Pottasche, Branntwein, Glaswaren, Hanf, Zwetschen, Driburger Wasser, Leinwand, Wacholderbeeren, Speck und Schinken, Holzwaren, Eisenwaren, Kupfer, Dachschiefer usw. Stromauf sollten kommen: Wein, Mühlsteine, Tannenbretter, irdene Geschirre, Farbwaren, Porzellan, Eisenwaren, Kolonialwaren, Fische, Teer, Tran, Öl, bergische und märkische Fabrikate, dazu Steinkohlen aus dem Dortmunder Revier.
In der Denkschrift heißt es weiter, daß man die Rheinprovinz statt mit holländischem nun mit westfälischem Salz versorgen könne, wodurch dem Staate eine Million Taler im Umlauf erhalten bliebe. Weitere Vorteile, die Handel und Wandel mitbringen würden, wurden aufgezeichnet. Tatsächlich wies der König zur Schiffbarmachung der Lippe von Wesel bis Neuhaus einen Betrag von 217.879 Reichstalern an. Eine zusätzlich erforderliche Anleihe von 120.000 Reichstalern wurde vom König genehmigt. Den Armen-, Kranken- und Stiftskassen wurde gestattet, ihre Gelder bei der Anleihe zu belegen.
Tatsächlich ließ sich das ganze Unternehmen erst gut an. Anno 1815 waren nur elf Schiffe vorhanden, 1825 waren es 43 und 1836 sogar 78 Stück.
Der Güterumschlag betrug 1841 auf der Talfahrt 1.494.214 Zentner, bei der Bergfahrt 625.694 Zentner und hatte damit seinen Höchststand erreicht. Jubelnd schrieb Harkort: „Dieser Fluß ist die vom Himmel bezeichnete große Wasserstraße Westfalens zum Niederrhein, bereits hat sich ein bedeutender Verkehr in Holz, Salz, Eisenerzen und Kaufmannsgütern entwickelt..." Aber schon hatte der Rückschlag eingesetzt. Die Verkehrsverhältnisse zu Lande besserten sich, die erste Periode des Landstraßenbaus war in Sicht, Eisenbahnen zogen ihre Schienenstränge durch das Land. Aber selbst diese Konkurrenzen hätten die Lippeschiffahrt allein nicht zum Erliegen gebracht, denn die Frachten waren gering.
Sehr nachteilig war das Absinken des Fahrwassers und das Versanden der Lippemündung. Der Wassermangel war hauptsächlich auf die fortschreitende Urbarmachung der wasserhaltigen Bruche und sonstigen nassen Flächen zurückzuführen. Zuflüsse, die sonst nur langsam ihren Weg zum Strom gefunden hatten, rauschten jetzt schnell dahin. Es kamen die gefürchteten Hochfluten und nach dem raschen Abfluß trat Wassermangel ein. Kaufmannsgüter brachte 1868 nur noch ein Schiff von Wesel nach Lippstadt, drei Schiffe beförderten noch Baumaterialien. Die Anlagen verkrauteten und versandeten und 1884 wurde die Schiffahrt auf der Lippe völlig eingestellt.
Aus: Westf. Heimatkalender 1974
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