So sah es zur Eiszeit an der Lippe aus

Von Dozent Dr. Paul Siegfried, Münster

Schmehausen liegt nicht im Kreis Soest. Aber an der Lippe. Und was dort gefunden wurde, kann auch der Boden von Hovestadt bergen. Auf jeden Fall sah die Landschaft mit allem, was in ihr lebte, in grauer Vorzeit bei Hovestadt und Eickelborn genau so aus wie bei Schmehausen. Wo heute. Gehöfte, Brennereien und freundliche Wohnhäuser stehen, tummelten sich einmal Vieheber respektablen Ausmaßes. Um Näheres davon zu erfahren, baten wir den Verfasser um einen Beitrag.                                                                                                                                               D. Schriftl.

Im Sommer des Jahres 1961 verbreitete sich eine Nachricht mit Windeseile zwischen Hamm, Soest, Unna, Dortmund und Münster: bei Schmehausen ist ein Saurier gefunden worden! Presse, Rundfunk und Fernsehen schalteten sich ein. Aber wie so oft erwies es sich auch hier, daß den Tatsachen durch eine voreilige Deutung eine unrichtige Vorstellung folgte.

Wie sahen die Tatsachen aus? Auf dem Gelände des im Bau befindlichen Kraftwerks Westfalen in Schmehausen bei Hamm kam bei Ausschachtungsarbeiten aus 8 m Tiefe ein großer Tierschädel zum Vorschein: 80 cm lang, dunkelbraun verfärbt, von ungewöhnlicher Gestalt. Für jeden war es sofort klar, daß es sich um ein vorzeitliches Tier handeln müsse, das in der Tiefe der Erde begraben lag, und der Schluß auf einen Saurier lag nahe, da dieses wohl im allgemeinen die bekanntesten vorzeitlichen Tiere sind. Doch sind es nicht die einzigen.

Wollen wir einen Fund aus den Tiefen der Erde beurteilen, müssen wir das Gesteinsmaterial berücksichtigen, in dem so ein Fund liegt. Die Tiefe ist dabei nicht ausschlaggebend, da auch sehr alte Gesteine dicht an der Erdoberfläche liegen können. Der Fund von Schmehausen lag in tonigen Sandablagerungen, wie wir sie aus der jüngsten Erdgeschichte kennen, aus einer Zeit, als die Saurier schon längst ausgestorben waren.

Diese lockeren Sand- und Tonlagen sowie auch Mergel bildeten sich während der Eiszeit, was wiederum durch die Funde von Tierresten, die in ihnen gemacht werden, bestätigt wird. Denn es handelt sich häufig um Tiere, die heute in unserer Gegend nicht mehr anzutreffen sind. Zu diesen gehörte auch das Nashorn, und als Nashornschädel ist der Fund von Schmehausen zu deuten. Man erkennt ihn an seiner langen, schmalen Form, an dem starken quergestellten Hinterhauptskamm, an den groben Zähnen eines Grasfressers und an den zwei aufgerauhten Knochenstellen auf Stirn und Nase, die die Ansatzstellen für die Hörner darstellen. Diese selbst sind nicht erhaltungsfähig, da ihre Hornsubstanz wie alle Hautteile mit der Zeit im Boden zerfällt.

Neben diesem Nashornschädel wurden in Schmehausen weitere große Tierknochen gefunden: ein schwerer Unterarmknochen von 86 cm Länge, ein Schienbein, das Bruchstück eines Schulterblatts, das fast 1 m hoch gewesen sein muß, und eine unvollständige bogenförmige Rippe von 83 cm Länge. Diese Knochen müssen ihrer Größe und Stärke nach einem Elefanten zugewiesen werden: dem eiszeitlichen Mammut.

Aus diesen Funden ergibt sich, daß bei Schmehausen in einem alten Flußarm der Lippe, dessen Verlauf in den aufgeschlossenen Sandablagerungen zu erkennen ist, Skelettreste von eiszeitlichen Tieren zusammengeschwemmt worden sind. Und die beiden Großsäugetiere, Nashorn und Mammut, können als Charaktertiere der Eiszeit bezeichnet werden, denen das unwirtliche Klima der Kaltzeiten nicht nur nichts anhaben konnte, sondern offenbar besonders zusagte.

Aus zahlreichen Knochenfunden, die in ganz Europa und auch in Asien gemacht worden sind, können wir schließen, daß das Mammut in Herden (wie es die heutigen Elefanten auch tun) das Land durchzog, und daß auch das Nashorn nicht selten anzutreffen war. Meistens liegen uns Funde von verschwemmten Einzelknochen vor, vollständige Skelette sind sehr selten. Ein solches vom Mammut wurde 1910 in Ahlen bei Hamm in einer Ziegeleitongrube gefunden und ist jetzt im Geologisch-Paläontologischen Museum in Münster aufgestellt.

 

 

    
     Auch solche Ungeheuer trieben sich
     einmal an der Lippe herum.
     Das Mammut:
     Rekonstruktion nach
     Prof. Zeuner, London 1952


 

 

Die erhaltenen Skelettreste können uns allerdings über das Aussehen dieser Tiere nicht ausreichend Auskunft geben, erst Funde, bei denen auch die Weichteile erhalten geblieben sind, lassen eine Aussage darüber zu. Derartige Funde sind im Boden Deutschlands natürlich nicht zu erwarten, jedoch kennen wir sie aus dem ewig gefrorenen Boden Sibiriens und aus Erdwachsablagerungen in Polen. Hier haben sich dank der konservierenden Wirkung des Eises bzw. des Erdwachses alle Teile des Tierkörpers erhalten: Haut, Hörn und Haare, Muskeln und innere Organe, ja sogar der Mageninhalt des Mammuts mit der unverdauten Pflanzennahrung wurde bekannt. So wissen wir heute, daß das Mammut der Eiszeit ein Elefant war, der die heute lebenden Elefanten an Größe übertraf und durch ein dichtes, langhaariges rotbraunes Fellkleid und eine Fettschicht von beträchtlicher Dicke unter der Haut gegen Kälte bestens geschützt war. Seine großen gekrümmten Stoßzähne, die über 4 m Länge erreichen konnten, wurden aber kaum als Waffe benutzt, denn das Mammut war ein friedlicher Grasfresser, der dank seiner gewaltigen Größe keine ernstlichen Feinde besaß. Sein Nahrungsbedarf war allerdings gewaltig: man hat berechnet, daß ein Mammut so viel Futter brauchte wie 12 Rentiere, und das war wohl auch der Zwang, der das Mammut zu weitreichenden Wanderungen veranlaßte. Es bevorzugte die Grasnahrung und hielt sich vorwiegend in der Grassteppe der eiszeitlichen Lößlandschaft auf, wird aber auch häufig in Flußniederungen anzutreffen gewesen sein.

Das Nashorn der Eiszeit, von dem bereits 1772 ein gut erhaltener Kadaver im Dauerfrostboden Sibiriens gefunden worden war, ist uns heute auch gut bekannt. Es trug ebenfalls ein dichtes schwarzbraunes Fellkleid und wird daher zum Unterschied von den heute lebenden Nashörnern als Wollhaarnashorn bezeichnet. Es war ein niedrig gebautes, äußerst starkknochiges Tier, das eine Schulterhöhe von 1,7 m bei einer Gesamtlänge von ungefähr 3,5 m erreichte. Den Kopf trug es tief zu Boden gesenkt, denn es nährte sich wie das heute noch in Afrika lebende, aber sehr seltene Breitmaulnashorn ausschließlich von Steppengräsern. Daß es zwei starke Hörner auf Nase und Stirn stehen hatte, ist am Knochenschädel nachzuweisen. Das vordere, längere Hörn erreichte bis 1 m Länge. Die Hörner sind im Eisboden Sibiriens mehrfach gefunden worden. Sie wurden von Händlern zu hohen Preisen angekauft, denn die Chinesen schrieben ihnen bestimmte Heilwirkungen zu. Die Sibirier fertigten aus den Hörnern des Wollhaarnashorns verschiedene Gebrauchsgeräte, bei einigen Volksstämmen hält sich aber heute noch die Meinung, daß diese Hörner Krallen eines sagenhaften Riesenvogels seien, mit denen ihre Vorfahren zu kämpfen hatten.

 

 


     So sah das Wollnashorn aus:

    
Rekonstruktion nach
     Prof. Zeuner, London 1952



 

 

Der Biograph Karls des Großen, der Mönch Einhard, berichtet, daß unter den kostbaren Geschenken, die der Kalif Harun al Raschid an den Kaiser sandte, sich auch das Hörn eines Einhorns und eine Kralle des Vogels Greif befanden. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es sich bei diesen Gegenständen um den Stoßzahn eines sibirischen Mammuts und um das Hörn eines Wollhaarnashorns gehandelt haben.

In Europa waren Mammut und Wollhaarnashorn Zeitgenossen des vorgeschichtlichen Menschen der Altsteinzeit. Seine Malereien, die besonders aus Höhlen in Frankreich bekannt geworden sind, stellen diese Tiere sehr lebensecht dar. Eine schöne in Rot ausgeführte Zeichnung des Wollhaarnashorns befindet sich an der Wand der Höhle von Font de Gaume.

Diese Zeit, die als Weichsel-Eiszeit bezeichnet wird, umfaßte die letzten 100 000 Jahre der gesamten Eiszeit bis vor rd. 10 000 Jahren. Damals reichte das Gletschereis vom Norden bis etwa an die Elbe. Das Gletschervorland, zu dem Nordwest-Deutschland gehörte, wurde im Norden von einer Tundrenlandschaft eingenommen, an die sich in den Lößgebieten eine kalte Grassteppe anschloß. Zahlreiche Wasserläufe durchzogen das Gebiet. Sie waren um ein Vielfaches größer und nahmen zum Teil einen anderen Verlauf als ihre heutigen Reste, die wir als Weser, Ems, Lippe, Ruhr und Rhein bezeichnen. Buschbestandene Talauen mit reichlichem Graswuchs säumten sie ein.

Während der langen Dauer der Weichsel-Eiszeit, die sich über viele Zehntausende von Jahren erstreckte, wechselten diese Landschaften vielfach. In Stillstands- und Rückzugsperioden des Gletschers drangen die Buschsteppe und ein sub-arktischer Wald weiter nach Norden vor, die Flüsse führten große Mengen von Schmelzwasser, Eisstau verursachte große Überschwemmungen mit ihren Gefahren für die Lebewelt, Sand und Schlamm wurden auf weiten Flächen abgesetzt. Bei Gletschervorstößen und Klimaverschlechterung breiteten sich die Tundra und die Kältesteppe weiter aus, die Flüsse wurden wasserärmer, kalte Winde wirbelten die lockeren Flußabsätze auf, trugen sie in Staubstürmen über das Land und ließen mächtige Lößablagerungen entstehen. Lange, schneereiche und kalte Winter wechselten mit kurzen Sommern, deren durchschnittliche Julitemperaturen + 10° C nicht überstiegen.

Wir finden daher aus dieser Zeit auch eine recht verschiedenartige Tierwelt im gletscherfreien europäischen Raum. Das kälteunempfindliche Mammut und Wollhaarnashorn wurden teils von echten Tundrabewohnern, dem Ren und dem Moschusochsen, begleitet, teils vom Steppenwisent und Wildpferd als Steppenbewohnern, aber auch von den Wald bevorzugenden Tieren, dem Rothirsch, Riesenhirsch, Elch und Ur, zu denen sich als Raubtiere der Höhlenbär, . die Höhlenhyäne und der gefährliche große Höhlenlöwe gesellten. Wolf und Fuchs sowie vielerlei kleinere Raubtiere und Nagetiere bevölkerten Steppe und Wald.

Der größte Teil dieser Tiere waren Jagdtiere des altsteinzeitlichen Menschen. Mit Speeren und Pfeilen stellte er ihnen nach und verstand es auch, sie in Fallgruben zu fangen. Sie lieferten ihm Nahrung, Kleidung und Geräte und ermöglichten ihm erst das Leben in der rauhen Umwelt dieser Zeit.
                                                                                                               Aus: Heimatkalender des Kreises Soest, 1963