Es ändern sich die Zeiten
von Franz Flecke, Büninghausen
Aus: Heimatkalender des Kreises Soest, 1963

Auf diesen Beitrag von Franz Flecke ist der Kalendermann besonders stolz - deshalb, weil gelang, einen Bauern zum Schreiben zu bewegen.

Zum erstenmal. Der Beitrag schildert, wie es in Büninghausen zuging und gelegentlich auch heute noch zugeht. Der Leser aus der Stadt, aber auch von der Haar, wird manches Neue darin finden. Schade, daß die Bauern nicht öfter zur Feder greifen. Vor 50 Jahren hat es einer aus Blumroth bei Borgein getan. Was der Bauer über sein Heimatdorf und besonders über bäuerliche Arbeit und Lebensweise geschrieben hat, ist so interessant, daß sein Büchlein noch heute in manchen Universitätsbüchereien aufgestellt ist. Es ist eben doch nicht so, als ob die „reine" Wissenschaft alles Wissenwerte festhielte. Und außerdem: aus der Sicht des Praktikers stellt sich manches anders dar. Aus Platzgründen mußte der umfangreiche Beitrag gekürzt werden, doch hofft der Kalendermann, daß noch genug übrig geblieben ist, den Atem der Lippelandschaft spürbar werden zu lassen.


Die Technisierung der Landwirtschaft ist jüngeren Datums. Ältere Leute am Lippeufer wissen noch der Zeit zu erinnern, als selbst Pferde noch nicht eine Selbstverständlichkeit für jeden Betrieb  waren. Im Kirchspiel Hultrop (Heintrop, Büninghausen) gab es vor 80 bis 100 Jahren etwa 50 Kuhbauern (jetzt keinen einzigen mehr). Wer seine 25 bis 30 Morgen Grünland und Acker in der Vergangenheit mit vier bis fünf Kühen abwechselnd bestellte, seinen „Kram“ gut aufpaßte und nicht so hoch auf papierenden Sohlen (Hypotheken) zu stehen hatte, der hatte genug zu essen, wenn es einer durstigen Leber auch nicht immer reichte.

Von einem alten Kotten kennt man heute nur noch die Stelle, wo er gestanden hat. Der Kötter überlegte vor Ausbruch des Winters, ob er sich Strümpfe kaufen oder das wenige Geld in Schnaps umsetzen solle. Er stellte sich selbst vor die Wahl: „Entweder Faitken mot Fuorst loien (leiden) oder Hälsken mot Duorst loien." Er kam bei seinen schwierigen Überlegungen zu dem heldenhaften Entschluß: „Ä wat, Faitken mot Fuorst loien - Halsken kann nit Duarst loien!"

Im Laufe der Zeit ist etwa ein halbes Dutzend alter Kötterstellen eingegangen. Die Kötter hatten im allgemeinen das Bestreben, die Ziege durch eine Kuh zu ersetzen. Die alte Kaspers Ammeroike, die ein wenig mit der 'Zunge anstieß, prägte den Ausspruch: „Sis - Siege is Sis - Siege. Et göit nicks vüör ne Ka - Kau."

Manche Kuhbauern besaßen keine Weiden. Sie hüteten an Wegen, Straßen und Patten, auf brachliegenden Anwenden und Lagerplätzen für Zigeuner und Korbmacher.

Die Umstellung von Ziege auf Kuh geschah langsam. Zunächst zog man eine Sterke (junge Kuh, die noch nicht gekalbt hat) auf. Dann mußte der Stall erweitert, oder ein neuer angebaut werden. Die Neuanschaffung von Ackergeräten spielte keine große Rolle, Manchmal hatte der benachbarte Bauer noch einen alten Pflug hinter der Scheune stehen, den der Kuhbauer sich für seine Zwecke erbat. Auch eine alte hölzerne Egge fand sich wohl. Auch ein Wagen wurde anfangs beim Bauern geliehen, denn diesem mußte man oft einen Gefallen tun. Eine Hand wusch eben die andere.

Anfang der 90er Jahre wurde hier die Molkerei gegründet. Vorher besorgten die Bauern das Buttern selbst. Dies machte besonders im Winter seine Schwierigkeiten. Zur Rahmabsetzung mußten die Milchnäpfe warm stehen. Nur in der Wohnstube war das möglich. Deshalb brachte man zwischen den Deckenbalken einige Bänke an. Hier mußten dann die Näpfe mit Papier auf unterlegten Stöckchen gegen zu große Verschmutzung durch Staub geschützt werden. Im Winter standen die Kühe wegen der schlechten Fütterung meist trocken. Die Molkerei drängte auf Lieferung von Milch auch im Winter. Es mußte also Kraftfutter (besonders Baumwollsaatmehl) zugefüttert werden. Der Rübenanbau war noch bescheiden. Immerhin hob sich der Viehbestand, und bei einem Besuch wurde zuerst der Stall besichtigt.

Gegen Ende des vorigen und zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts wurden die meisten Straßen ausgebaut. Die besseren Verkehrsverhältnisse (1903 wurde hier die Kleinbahn gebaut) belebten die Bautätigkeit. Manche Kuhbauern übernahmen ein Handwerk und übten zwei Berufe aus. Die meisten Männer gingen dem Maurerhandwerk nach. Drei oder vier Maurermeister zogen früher mit ihren Kolonnen von der Lippe in die Bördedörfer zur Arbeit. Bis zum ersten Weltkrieg bevorzugte man den Fachwerkbau. Eichenholz hatten die Bauern selbst. Infolge der umfangreichen Rodungen wurden die Eichenbestände immer lichter. Die um die Jahrhundertwende erstellten Fachwerkbauten erwiesen sich vielfach als wenig haltbar. Unter der dicken Putzschicht stickten die verhältnismäßig schwachen Pfosten, rissen und wurden morsch. So mußte man inzwischen an manchen Fachwerkbauten die Süd- und Westwand durch massives Mauerwerk ersetzen. Die Zahl der Maurer ging nach dem ersten Weltkrieg stark zurück. Nur wenige Bauernhäuser wurden in den letzten fünfzig Jahren errichtet. Auch die Zahl der Zimmerleute ist geringer geworden. Dielenschneider gibt es schon lange nicht mehr. Die Dielen (dicke Bretter) werden schon lange von den Sägemühlen geschnitten. Sie werden sauberer gesägt und der Abfall ist gering. Die Dielen waren früher dicker, weil die Gefache der Fußböden weiter auseinanderlagen.

Wohl kein Zweig des Ackerbaus war mit so viel Brauchtum umgeben wie der Flachsbau. Schon die Vorbereitung des Ackers erforderte große Sorgfalt. Um den 100. Tag im Jahr sollte gesät werden. Das war der 10. April. Dann wurde der Flachs kurz vor der Roggenernte reif. An Saatgut mußte man ungefähr die gleiche

Menge wie beim Roggen rechnen. Wenn der Flachs zu dünn stand, wurden Stengel und Faser zu grob. Kaum war die Pflanze handlang, begann man mit dem Jäten. Hätte man damals bereits Sä- und Hackmaschinen gehabt, wäre der Flachsanbau nicht so schwierig gewesen. Während des ganzen Jahres gab es Arbeit mit dem Flachs. Im Winter saß die Frau am Spinnrad. War das Weben vorbei, dann mußte im Frühjahr gebleicht werden. Es ist nicht so lange her, daß die letzten Bleichhütten verschwunden sind.

Etwa bis 1900 arbeiteten hier noch einige Weber. Die Familien waren den ganzen Tag über mit dem Spulen und Weben beschäftigt, doch sie kamen trotz ihres großen Fleißes auf keinen grünen Zweig. Das Knarren des Webstuhles deutete man mit dem Vers: Oile Bräut / schuier Bräot (Schwarzbrot ohne etwas drauf).

Etwa ein halbes Dutzend Korbmacher gab es früher. Der alte Kampschulte fertigte in geschickter Weise alle Arten von Körben an: Reise-, Wäsche-, Butter-, Früstücks-, Schul- und Sammelkörbe für die Kirche. Den Hauptanteil stellten aber die Kaffkörbe. Kartoffelkörbe machte der Korbmacher nicht. Die konnte sich der Bauer selbst anfertigen. Im Nachbardorf hatte sich der Schulze im Loh einen Korbmacher als Opfer seiner Streiche auserkoren, verleitet durch dessen kleine Werstatt. Der Schulze wollte einen Korb haben, der mindestens doppelt so groß wie ein gewöhnlicher Kaffkorb war. Der Meister gab sich an die Arbeit, und das Ungetüm von Korb wurde rechtzeitig fertig — nur kam er nie auf den Hof. Dem Korbmacher blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Der Riese ließ sich nicht durch die Tür zwängen. Die Werkstatt wollte der Korbmacher nicht abbrechen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Korb abzumontieren und dafür zwei kleinere zu machen. Der Schulze war freigiebig genug, zum Trost einen guten Tropfen zu spendieren.

Von den Holzschuhmachern ist keiner übrig geblieben. Früher waren die Weiden gesucht, während sie heute kaum noch als Brennholz Verwendung finden. Auf Vereinsfesten fehlte damals fast nie eine Verlosung, und die Holzschuhmacher stifteten jedesmal ein Paar ihrer Holzschuhe. Während der Verlosung wollte es manchmal das Pech, daß ein Holzschuhmacher ein Paar Holzschuhe der Konkurrenz gewann.

In jedem Jahr ging der „kleine Mann" zur Frühjahrszeit nach Lippstadt und holte sich zwei Schweinchen. Ein großes Problem bildete die Auffütterung. Etwas Milch und einige kleine Kartoffeln wurden gefüttert, doch zuviel durfte man davon nicht geben, weil sonst Knochenweiche eintrat. In den Kämpen suchte man nach Disteln, die schon zeitig am Boden ein dichtes Blätterwerk entwickeln, ehe sie einen Stengel bilden. Im Herbst ging es um die Entscheidung, ob das größere Schwein für den Eigenverbrauch behalten werden konnte, oder ob man sich mit dem kleineren behelfen mußte. Wenn man sich es eben leisten konnte, behielt man das größere Schwein. Denn, obgleich man ab und zu einen Hasen fing, kam doch recht wenig Fett in den Topf.

Als die ersten Dreschmaschinen aufkamen, gab es für viele Leute Arbeit. Um 1870 lief die Maschine noch mit Göpelantrieb. In Schwierigkeiten kam man mit dem Einsatz der Pferde; denn es wurde auch in der Zeit der Feldbestellung gedroschen, und die Pferde schafften die anfallende Arbeit nicht. Bald kam aber die erste Dampfmaschine aus England. Die Maschine konnte auf jedem Hof im Sommer und Herbst nur einen halben Tag eingesetzt werden. Von 6 bis 11 Uhr wurde dann an einer Stelle gedroschen, während die zweite Hälfte des Tages von 13 bis 18 Uhr auf einem anderen Hof gearbeitet wurde. In der Zwischenzeit mußte umgefahren

aufgestellt werden. Das anfallende Korn mit dem Kaff und Staub mußte zunächst auf Hillen und Kammern untergebracht . werden. Später wurde mit der Wannemühle gereinigt. Um 1890 hatte die neue Dreschmaschine dann eine eigene Reinigung und um 1900 eine Doppelreinigung. Als der Strohbinder, genannt Damenschoner, aufkam, benötigte man beim dreschen vier Leute weniger, noch etwa zehn.

Ein Holzverkauf in früheren Zeiten hatte für die Dorfbewohner der Lippelandschaft größere Bedeutung als heute; denn das Holz wurde vielseitig  gebraucht. Nebenbei gab der Holzverkauf den Männern eine Gelegenheit, sich mit Bekannten zu treffen und vielleicht auch einen kleinen Umtrunk zu halten. Vor hundert Jahren rief der Versteigerer noch aus: „Zwei Espen — zum ersten! No niemand? Keine Stroikemiäkers do? Sonst quälen sai einen immer, man solle einige Espen wachsen lassen, beim Verkauf aber ist dann keiner da. — Ach, endlich, zum ersten - zum zweiten und — zum — dritten. Habt Ihr damit auch genug?“ „Na, eine könnt ich noch gut gebrauchen.“ „Da hinten liegt noch eine. Wir wollen sie gleich dazu schreiben. Also drei Espen, zum ersten — zum zweiten — und — zum dritten."

Die Stroike wurden und werden gebraucht zum Schärfen der Sensen und der Messer der Futterschneidebank. Das Wetzholzmachen wurde berufsmäßig ausgeübt. In den Gemeinden an der Lippe gab es mehrere Männer, die sich damit beschäftigten. Das Espenholz eignete sich besonders gut, weil es leicht war und sich so gut spalten ließ, daß es nur wenig Abfall gab. Den Arbeitstisch bildete eine Schnitzbank, als Handwerkszeug benutzte man das Ziehmesser. Auf dem Kopf der Schnitzbank war ein Stück Säge angebracht. Etwa ein Drittel des Holzes für die Stroike diente als Griff und wurde entsprechend beschnitten. Am Ende des Griffes gab es einen beidseitigen kleinen Einschnitt. Auf eine Stärke von etwa einem Zentimeter wurde der übrige Teil des Holzes geschnitten und leicht angerauht, um die Wetzmasse besser zum Haften zu bringen. Die Wetzmasse bestand aus einem bestimmten Gemenge von Sand und Teer, und jeder Meister hatte seinen Platz am Lippeufer, wo er seinen Sand zu finden wußte. Den Teer, der im Handel zu erstehen war, vermischte man mit „getriebenen“ Teer, der schon zum Abschmieren der Ackerwagen gedient hatte. Der Meister zog eine alte Bükse und einen schlechteren Kittel an, nahm mit einem Stock seinen Teerpott und ein Kratzeisen auf die Schulter und zog von Hof zu Hof, um den abgetriebenen Teer von den Bauernwagen zu kratzen. Schließlich kam dann der bedeutende Tag. In der Küche des Hauses wurde auf offenem Feuer der Sud gekocht. Jeder Meister besaß ein streng gehütetes Geheimnis über die Zusammensetzung der Wetzmasse. Die Wetzhölzer bestrich man gleichmäßig mit dem schwarzen, stinkenden und qualmenden Präparat. Die Strohken wurden mit Schubkarren und Kiepen zu den Händlern, auf die Kirmessen und Wallfahrten gebracht.

Wenn Kinder diesseits der Lippe nach Lippborg gehen mußten, wurden sie früher mit folgendem Spruch wieder über die Lippe „gebracht“:

 

Üewerlippske däuwe

stiält us use Bräuwe,

stiält us use bunte Käu

welt ter mit no Köln hentäu.

 

Die Lippe war früher Landesgrenze. Der Vers erweckt den Eindruck, als ob es sich um einen Raubüberfall handele, bei dem Urkunden und Vieh geraubt wurden.