Um den großen Turm von Oestinghausen
Eine Plauderei von Paul Schroer
Am nördlichen Rande der fruchtbaren Börde steht er, sichtbar schon auf den Höhen der Haar, noch erkennbar vom Höxberg bei Beckum. Vor etwa tausend Jahren, als dieser Landstrich fränkischer Siedlungsraum gegen die Sachsen wurde, trugen und fuhren unsere Ahnen den grünen Sandstein aus den Brüchen von Anröchte und Ampen heran zum Bau dieses edlen romanischen Bauwerkes, das sich wohl mit den ältesten und schönsten im Soester Lande messen kann. Auf dem hohen Ufer der Ahse erwuchs das Gotteshaus als wahrer Mittelpunkt eines weiten Kirchspieles. Zwar sind dessen Grenzen nicht mehr identisch mit den weiter reichenden des Amtes Oestinghausen, aber auch heute noch marschieren oder fahren die Schulkinder und Kirchgänger Tag für Tag und Sonntag für Sonntag aus dem westwärts gelegenen Wiltrop (zu Großmutters Zeiten sogar noch aus Hultrop!) ihren mehr als zwei Kilometer langen Weg; von der Lippe, aus Oesterheide und Niederbauer, ist es teilweise noch weiter.
Und in der alten Schule (jetzt steht leider eine viel zu moderne am Rande des schönen Dorfes) unmittelbar am Fuße des großen Kirchturmes von St. Stephanus traf sich die Jugend aus etwa einem halben Dutzend Dörfern. In drei (!) Klassenräumen haben viele, viele Jahrgänge zu Füßen von Lehrer Kleffner und Hauptlehrer Stritzke, von Frl. Lüttkoff, Schröder und Schlinkert gesessen.
Als einer dieser vielen, der acht Jahre lang bei Wind und Wetter, bei Sonne und Regen, bei Kälte und Schnee seinen Weg nahm zur Kirche mit dem großen Turm, zur Schule mit den alten zerschnitzten Bänken, suche ich nach Erinnerungen. Und gleich die erste geht zu einem Feiertag in der Weihnachtszeit, als ich mit den älteren Brüdern zur Kirche und zur Krippe durfte.. Kalt war es draußen - früher waren die Winter ja bekanntlich alle kälter, und zu Weihnachten lag immer Schnee -, kalt war es in der Kirche. Darum war ich heilfroh, als das Schlußlied verklang, und drängte frierend zum Ausgang, wo mir meine froststarrenden, schmerzenden Zehen den Ausruf abpreßten: „Heh, was hab ich kalte Tehpen!" Diese „Tehpen", eine etwas mißglückte Umsetzung aus dem Platt, trugen mir schallendes Gelächter ein, und wenn wir Brüder uns heute nach vierzig Jahren an einem frostigen Wintertag wiedersehen und die Kälte aus den Knochen schütteln, dann ruft mir totsicher einer zu: „Heh, was hab ich kalte Tehpen!"
Überhaupt dieser Weg vom kleinen Wiltrop zum großen Kirchdorf! Kurvenreich zwischen Äckern und Weiden am großen, einzeln gelegenen Felshof vorbei! Im Sommer lief man barfuß; ich selbst durfte das nur heimlich tun! Ein Junge aus ordentlicher Familie hatte auch auf dem Schulweg ordentlich angezogen zu sein. Ich trug auch meistens Schuhe, während meine Kameraden noch vielfach mit ihren Holzschuhen (Holzken) klapperten. Aber wenn im Winter der Schneesturm vom Osten blies und Straße und Graben und Feld verschneit und verweht waren, dann war dieser Weg in früher Morgenstunde schon ein rechtes Abenteuer. In Stiefelholzschuhen (das sind Holzken mit aufgesetztem, geschnürtem Schaft), mit zwei Paar Socken an und dick vermummt, den Tornister auf dem Rücken, stapften wir los. Auf der leeren Dorfstraße waren erst wenige Spuren zu sehen. Hatte man Glück und wurde der Pfiff gehört, so traf man sich „auf dem Knapp" am Dorfausgang. Dort war auch Hilfe vonnöten; denn der Ostwind sprang uns hinter den letzten Häusern frontal ins Gesicht und riß uns den Atem vom Mund. Und wo war der Weg?
Die schiefen Straßenbäume am Grabenrand standen noch, und eine Radspur war da, eine Spur, die ausging vom elterlichen Hof, gezogen vom Milchwagen, der mit seinem Gespann für uns Schulkinder ein unentbehrlicher Wegbereiter war. Traf es sich, konnte man auch ein Stück Weges mitfahren. Hatten wir erst das Kreuz auf dem Felterberg passiert, ging es hoffnungsvoller auf den schützenden Felshof zu mit seinen vielhundertjährigen Eichen. Von dort ist es nicht mehr weit bis zu den Tannen von Schuhe-Mühle (heute verschwunden) und zum bergenden Dorfrand von Oestinghausen.
Im täglichen Schulgottesdienst waren mehr Auswärtige als Einheimische; die wohnten ja so nahe an der Kirche, die genossen den Segen von „Nachbar Gott", um mit Rilke zu sprechen, noch im warmen Bett und flitzten in die Schule, wenn wir Frühaufsteher schon Weg und Messe bestanden hatten. Der eine oder andere von uns hatte in der kalten Kirche nicht gefroren; denn er war durch einen leisen Wink des Organisten, Hauptlehrer Stritzke, auf die Orgelbühne beordert worden, um der alten, etwas asthmatischen Orgel mit dem Handblasebalg den nötigen Atem zu geben.
Ich erinnere mich auch an die armselige Zeit nach dem ersten Weltkrieg, als vom Turm nur noch eine einzige Glocke erklang, die dickste, die nicht in die Geschützfabriken geholt worden war. Ob Feiertag oder Trauertag, sie erklang immer im gleichen Ton und Rhythmus. Zum Totenläuten stiegen wir größeren Jungen zur Glockenstube mit dem imponierend wuchtigen Eichengebälk und setzten mit vereinten Kräften die Glocke in Schwung. Im Dröhnen ihrer Stimme konnten wir uns nur durch Blick und Wink verständigen. Am Schluß einer jeden Läutezeit ließen wir uns rittlings auf einem blankgescheuerten schräg stehenden Balken von der ausschwingenden Glocke als Bremsklotz emporschnellen und wieder zurückfallen. - Natürlich sang das Geläut einer jeden Kirche sein eigenes Lied. So begannen am frühen Morgen die Glocken von Lippborg:
“Sett diän gräoten Pott op't Fuier, sett diän gräoten Pott op't Fuier!"
Etwas schmalbrüstig antworteten die kleinen aus Hultrop:
„Hätte garnix in te daun, hätte garnix in te daun!"
Die von Oestinghausen aber, als sie noch alle im Turm hingen, riefen:
„Daut'n Schiepel Bäohnen in'n Pott, daut'n Schiepel Bäohnen in'n Pott!"
Der Kirchplatz von St. Stephanus ist von einmaliger Schönheit und Geschlossenheit. Im engen Rund schmiegen sich gepflegte Fachwerkhäuser an die Kirche mit ihrem alten Wehrturm, die man nur durch schmale Gassen erreichen kann. Die breiteste, als einzige einspurig befahrbar, trägt den seltsamen Namen „Wurstekessel". Am Fronleichnamstag zieht die festliche Prozession unter den alten Kastanien des Kirchplatzes hin durch den angrenzenden prachtvollen Pastoratsgarten zum Romberg (Römerberg?) hinauf, wo unter uralten Linden an der Stätte des ehemals „Heimlichen Gerichts" (und Thingplatzes?) eine Findlingsgruppe mit Kreuz an die Gefallenen beider Weltkriege erinnert. Als ich zum ersten Mal mitdurfte, ging die Prozession noch über „Pingeln Berg" zum Schloß Plettenberg in Hovestadt und über Nordwald zurück. Heute begnügt man sich mit dem halben Weg vom Romberg an Groß-Hundorf vorbei und über das „Hach" wieder zurück. - Spaßigerweise denke ich an meine erste Prozession nach Hovestadt, wenn ich „Sinalco" lese oder trinke, weil ich damals als kleiner Junge auf der anstrengenden heißen Pilgerfahrt in der Pause meine erste Flasche „Sinalco" bekommen habe.
Im hohen Sommer war unser Nachhauseweg von der Schule recht eintönig. Darum saßen wir oft auf der Kniebank des Kreuzes unter den Eichen vom Felshof und machten gemeinsam den schwierigsten Teil unserer Schulaufgaben. Bis zum Flutgraben am Fuße des Felterberges gab es keine größeren Unternehmungen; man konnte höchstens versuchen, ob die jungen Bullen nebenan wirklich so angriffslustig waren. Bei den alten Kopfweiden am Graben teilte sich unser Weg: wir Dörfler gingen gewöhnlich über die Kreisstraße nach Hause. Ihre große Kurve in Höhe der „Heuhecke" haben wir oft einfach abgeschnitten und sind durchs hohe Korn gelaufen. Aber das hat uns die kräftige väterliche Hand rasch ausgetrieben. Wenn es etwas auszuhecken galt, war der Weg „unten her" vorzuziehen, vorbei an tiefliegenden Weiden, über den Steg des „Nuilensgrabens" mit seinem Froschlaich und mannigfachem Getier, an der mächtigen Schwarzdornhecke entlang, wo wir kleinen Räuber ein Drosselnest zerstörten, wo wir herrlich trödeln konnten und nicht selten mit stundenlanger Verspätung nach Hause kamen. Aber daran waren dann die bösen Gänse von Berghoff schuld oder Fritz und der lange Paul, die uns mal wieder den Weg verlegt hatten. Eine andere Betätigung bestand darin, mit den angefahrenen Schottersteinen den das stille Dorf bedrohenden Fortschritt zu hemmen: Es war die erste Telefonleitung von Oestinghausen nach Wiltrop gebaut worden. Schon nach wenigen Wochen gab es an dem zwei Kilometer langen Weg nicht einen einzigen unzerstörten Isolator mehr an den Masten. Die Felder waren zur Freude der Bauern mit Steinen übersät. Obwohl ich mich aus guten Gründen lange vor diesem „Pöttkenschießen" gedrückt hatte, war ich schließlich doch dem Spott meiner Kameraden erlegen und hatte mit dem ersten und einzigen Wurf das letzte noch heile „Pöttken" heruntergeholt. Aus: Heimatkalender des Kreises Soest, 1963
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