Neuste Nachrichten liefen durch das alte Dorf
Postbote Lutterbüse war nicht der liebe Gott
Von Heinrich Luhmann

Das alte Dorf meiner Kindheit lag an der Lippe, im Herzen Westfalens. Wie magische Schatten standen bei gutem Licht die Türme von Soest am südlichen Horizont. Was zu jener Zeit an Nachrichten aus der nahen und weiten Welt zu uns kam, überbrachten keineswegs Rundfunk und Fernsehen — die heute kaum in einem Hause fehlen —, zuständig dafür war einzig und allein um die Jahrhundertwende Postbote Lutterbüse.
Von Soest wurde ihm alle Morgen nach Oestinghausen gebracht, was er in seiner Lederholster weiterzubefördern hatte. Er war, entsprechend seines dienstlichen Ranges, in jeder Weise Respektsperson in den Häusern und auf den Höfen der drei Lippedörfer, die durch ihn recht eigentlich in Verbindung mit der Welt standen. Man sah ihm seine Würde natürlich äußerlich schon von weitem an; er trug den blauen, langschößigen Dienstrock und legte ihn auch nicht in der Zeit der Hundstagshitze ab. Die Mütze mit dem breiten Schirm saß genau einen Fingerbreit über dem rechten und linken Ohr. Die Lederholster hing über seiner rechten Schulter, aber gerade soweit nach links herüber, daß die Hand bequem hineingreifen konnte. Säuberlich geordnet lagen da Briefe und Postkarten, das größere Fach füllte der Berg mit dem Kreisblatt, das er in manche, längst aber nicht in alle Häuser zu liefern hatte. Das Wertbeständige — wenn's ihm mitgegeben war —, das rare Geld und die Anweisungen barg er in der Brusttasche und lieferte es nur aus, wenn der Empfänger so unverwechselbar feststand wie der Kirchturm unter den Bauernhäusern.

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Alle erwiesen dem Postboten Lutterbüse die verdiente Ehre — nur nicht die Hofhunde. Sie schienen nicht unterrichtet zu sein über den Rang eines preußischen Beamten, der mit so wichtigen Dingen beauftragt war, wie es die Nachrichtenübermittlungen nun einmal sind. Näherte er sich auf hundert Meter Entfernung, schossen sie aus ihrer Tonne neben dem Vorschöpsel heraus. Jeden Morgen geschah dasselbe: Postbote Lutterbüse antwortete auf ihr wütendes Gekläff auf besondere Weise; er sah ihnen stracks ins Auge, hielt ihnen die eisenbeschlagene Spitze seines Eichenstockes hin und forderte sie auf: „Nun beiß doch, Treff, lecker, lecker!" Gleichzeitig spie er aus; aber nur wenig, um den Geschmack seines Priemchens nicht zu beeinträchtigen. Treff und Turk, Müdes und Muff, oder wie sie hießen, zogen sich daraufhin mit gesträubtem Fell und eingezogenem Schwanz zurück. Es ist nicht bekanntgeworden, ob die Eisenspitze oder die speiende Verachtung sie dazu veranlaßte.

 


Ich verstand mich gut mit Postbote Lutterbüse. Alle Morgen kraulte er mir Vier-Fünf jährigen wohlwollend den Schöpf, soweit er unter der Mütze hervorquoll, und übergab mir das Kreisblatt und was sonst noch an die Eltern gelangte. Er wartete aber gewissenhaft, bis ich es abgeliefert hatte. Bald darauf horte ich ihn vor der Tür unseres Nachbarn: „Neueste Nachrichten! Neueste Nachrichten, frisch wie warme Kuhmilch! Und 'n schönen guten Morgen auch!" Das war er. Es umhing ihn etwas wie der Atem der Welt.
Sonst lag das Dorf zu jener Zeit im friedlichsten Abseits und in der Einsamkeit der Äcker und Weiden. Die Landstraße, die uns mit dem Draußen verband, wußte nichts mehr von dem, was sie zweihundert Jahre gewesen war: der Alte Postweg! Zweihundert Jahre Weg in die Weit. Zweihundert Jahre Träger von Nachrichten, die von Paris über Berlin nach Rußland weitergegeben wurden in Kutschen und Schlitten, durch laufende und reitende Boten. Und das kleine Dorf Station für den Pferdewechsel und von Wichtigkeit für die Strecke zwischen Hamm und Lippstadt und darüberhinaus.
Die Kurfürsten von Brandenburg hatten um 1650 den  uralten Hellweg am Südufer der Lippe zu diesem Postweg ausgebaut, der von ihren clevischen Besitzungen am Niederrhein mitten durch Westfalen und schließlich zu ihrer Residenz und weiter lief, bis dorthin, wo Europa aufhörte und die Welt mit Brettern zugenagelt war. Hillweg nannten die Bauern die Straße -es mag wohl hoher, trockener bedeuten —, sein großer Bruder, der nördlich von ihm durch Dortmund und Soest nach Paderborn seinen Lauf nimmt, ist ein bißchen berühmter, aber alter ist er auch nicht: durchs Lippetal und auf seinem Hillweg marschierten schon vor der Zeitwende die Heerscharen bekannter und unbekannter Volksstämme hinein in die Wälder Mittelgermaniens. Aber was kümmert's uns?

Zweihundert Jahre fuhr die neue Welt durch unser Dorf! Sehr oft hielt sie am Posthause von Hultrop an. Immer dann, wenn die Pferde gewechselt werden, wenn Schäden ausgebessert werden mußten. Die Sandstraße wies ungezählte Kuhlen und Pfützen auf. Kripper waren unentwegt tätig, sie mit Büschen und Lehm auszubessern. Aber was half’s? Ständig stürzten die Gäule, und immerfort brachen Räder und Deichsel. Auf der kleinen Strecke von einer Wegstunde — soweit lagen die drei zum Kirchspiel gehörenden Dörfer auseinander — gab es fünf Huf- und Wagenschmieden. "Der Pferdehalter in Hultrop verfügte über achtzig und mehr Gäule, er besaß eine stattliche Zahl von Kutschen und Schlitten und gebot über ein kleines Heer von Postknechten. Längst hatte er an Wohlstand die ehemals reichen Kaufherren von Soest übertroffen.

Dort unter den Türmen der alten Hansestadt war man nicht gut auf ihn und sein Dorf an der Lippe zu sprechen. Nach dorthin mußten sie nämlich ihre Post geben, und von dort mußten sie das ihnen Zugedachte abholen lassen — an die zweihundert Jahre! Im Archiv der Stadt finden sich noch heutzutage die Abschriften jener Petition an die brandenburgischen Landesherren, die Poststraße aus dem „erbärmlichen Nest am Lippewasser" zu verlegen und durch die „Ehrenreiche" zu leiten. Vergeblich — die Soester mußten weiterhin ihr Geschriebenes zwei Stunden hin- und zwei Stunden herschicken, um Anschluß an die Welt zu gewinnen. Sie fluchten nicht schlecht und fühlten sich wie von Wespen gestochen, hörten sie den Namen des Dorfes und den seines gewaltigen Postmeisters.

Ein allzu großer Drang, sich der Welt mitzuteilen, bestand freilich zu jener Zeit nicht. Um 1650 wird von einer einzigen Botenfrau berichtet, die von Soest an die Lippe lief — man will wissen, daß sie in der Schürze die Briefschaften hin- und zurücktrug! Erst seit 1768 verkehrte zweimal in der Woche eine fahrende Post von der Stadt zum Dorf. In der romantischen Zeit scheint auch die Liebe ins Spiel gekommen zu sein und die Lust am Briefeschreiben geweckt zu haben. Um 1820 hatten vier Fahrposten, zehn reifende und sechs Botenposten zu tun, die Nachrichten des Herzens und alle anderen nach Ost und West, Süd und Nord zu geben- Wenn sie ihren Empfänger in Berlin hatten, dauerte es immerhin fünfundsiebzig-dreiviertel Stunden, bis der Schwager dort eintraf.

Gegen den Gewaltigen, der in jenen Zeiten Passagiere und Briefe über Land brachte, wäre selbst Postbote Lutterbüse in der Pracht seines goldknöpfiges Schoßrocks und der hohen Amtsmütze auf dem weißen Haar nicht angekommen. Ein mächtiger Mann — und ein Fisselünter, ein Schelm, auch! Er tränkte nicht nur seine Pferde mit einer kräftigen Haferbrühe, er setzte auch den Gästen, wenn sie nur eben danach begehrten, ein selbstgebrautes Altbier und einen Selbstgebrannten Kornschnaps, „dat reine Waort Guods", vor — ja, er war sehr darauf bedacht, seine Ware an den Mann zu bringen.

Eines Tages nun fuhr Extrapost aus Paris vor, Sie hatte es eben bis unters Türschild mit der Aufschrift „Zur Alten Post" gebracht, als dem Leitpferd das Lederzeug riß. Es blieb nichts übrig, als den Livrierten zum Sattler ins Dorf zu schicken. Ein zweiter nutzte die Gelegenheit, die Deichsel beim Stellmacher ausbessern zu lassen. Der Herr verblieb allein im Wagen.

Der Postmeister versuchte vergeblich, ihn in die Gaststube zu laden. Der hinter den halbverhangenen Fenstern würdigte ihn nicht einmal eines ablehnenden Kopfschütteins. War das überhaupt ein Mensch? Nun erst sah ihn der Postmeister von allen Seiten an. Vornehm genug gab er sich: die weißgepuderte Perücke schien feinen Duft zu stäuben, der blaue Rode war von neuestem Pariser Schnitt, das weiße Halstuch von feinster Seide, das Buch auf den Knien ein dicker Foliant, in Leder gebunden — das Gesicht, war das noch ein Abbild Gottes, wie es doch in der Bibel vom Menschenantlitiz heißt? Barmherzigkeit — das war das Gesicht eines Affen!

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Der Postmeister, der sich selbst und seine Gaben am Schanktisch schmählich mißachtet sah, beschloß, sich so rasch wie möglich andere Kundschaft zu besorgen. Er schickte Boten ins Dorf, in den Ställen, auf den Dreschtennen und in den Molkekellern anzusagen, am Posthause sei ein Affe vorgefahren, nach seinem Ermessen ein Orang-Utan, Man könne nicht wissen, ob das Geschöpf nicht Urwaldanwandlungen befalle, ob es plötzlich aus seinem Verlies springe, auf Bäume steige, in die Kammern oder auf die Dächer klettere. Was dann geschehe, sei nicht abzusehen. Das Dorf möge zu Hilfe kommen, „En Aape am Posthius! Kummet alle te Hülpe!" So riefen es die Knechte aus.
Sie kamen mit Flegeln und Forken und was sie sonst in der Eile gegriffen hatten. Die Weiber, die Kinder am Schürzenband nach sich ziehend, folgten ängstlich von ferne. Der Haufen umringte das Gefährt auf der Straße. Die Vorhänge waren nun völlig zurückgezogen und gaben den Blick auf den Insassen frei. Wirklich, es war, wie es angesagt wurde!

„'n Aape! n'Aape!"
„Wat woß du hier?"
„Woß du in uese Kammern?"
„Woß du op de Däcker?"
„Na kuier doch, du Aape!"

Flegeln und Forken hoben sich drohend. „Woß du dat Duorp anstiäken, du ösige Aape?" Der drinnen verharrt in stoischer Ruhe. Er sah wohl kaum den Wald der Flegel und Forken. Die Erregung der Herbeigerufenen wuchs bei diesem Verhalten, das schweigende Verachtung schien. Oder war es die Ablehnung des Urwalds gegen jede Äußerung der Zivilisation? Ehe man die Türen der Kutsche mit Gewalt öffnete, kam ihrem Besitzer Hilfe. Einer der Livrierten näherte sich in Eile und in höchstem Entsetzen. Er radebrechte soviel Deutsch, das selbst die Flegel und Forken verstanden: „Messieurs, nix Aape, mein Herr, wo ist weltbekannter Professeur und Philosoph Voltaire ... eingeladen zu Visite von Seiner Majestät Könik Frederec in Potsdam , . . !"
Kein Orang-Utan also — der berühmte Voltaire auf der Fahrt zum Alten Fritz!

Die Angelegenheit hatte kein weiteres Nachspiel als jenes in der Gaststube am Schanktisch, das ihr Besitzer gewollt und erwartet hatte- Paris schwieg, Potsdam auch: wofür war man Philosoph, König und Philosoph in Sans-souci? Außerdem lag der Postort an der Lippe im kurkölnisdien Land, das hier mit einem Zipfel von Werl bis an den Fluß hereinreichte. Nein, nichts geschah! (Und wenn's auch von anderen Stellen im preußischen Land ähnlich berichtet wird, was der Weisheit aus Paris beinahe angetan wurde, der Weisheit, die sich in der Tat hinter einem so wenig menschenähnlichen Angesichte verbarg, dem Gewaltigen an der Lippe wird bis auf den heutigen Tag nachgesagt, daß er solche Post ins Dorf gab, damals, damals ...].

Ich aber muß noch einmal in m e i n Damals zurückkehren, in meine ganz jungen und dummen Jahre — und zu ihm, zu Postbote Lutterbüse und seiner hohen Würde. Er hat mich in jenen Tagen in die ärgsten Kindheitsqualen und in peinliche Glaubenszweifel gebracht. Ich hatte doch bei meinen vier, fünf Jahren im abseits vom Dorfe gelegenen Hause nur die kleine Schwester und Alli, den braunen Hund unbestimmter Rasse. Nun erkrankte die kaum einjährige Schwester, lag lange elend und von der Mutter ängstlich umsorgt in der Kammer und ging dem Tode entgegen. Eines Morgens im späten Herbst bereitete mich die Mutter in Eile und zwischen Tür und Angel auf das Ende vor:

„Heute holt der liebe Gott deine kleine Schwester." Der liebe Gott? Ob der in unser Haus kam? Natürlich doch, wie sollte es anders sein, wenn er sie nehmen und forttragen wollte! Und so fragte ich: „Er kommt richtig in unser Haus — er holt sie, der liebe Gott?" „Ja — ja — ach, Kind —" Sie eilte schon wieder in die Kammer nach oben.
Das Wort der Mutter stand für mich auf so festen Füßen wie Hektor, der Gaul unseres Nachbarn. Er würde in unser Haus kommen, der liebe Gott! Ich verbarg mich mit Alli in dem ausgedienten Kutschwagen, der am Wege stand, und wartete dort auf die Ankunft des lieben Gottes. Alli war mit mir ganz der gleichen Meinung: dort, wo das große Auge des lieben Gottes jeden Morgen am Himmel sichtbar wurde, über den Feldern, würde er herniedersteigen und sich auf den Weg in unser Haus begeben. Alli nickte mit den großen Ohrlappen Beifall.

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So warteten wir. Wer dann endlich kam, war der Postbote Lutterbüse. Ich sprang ihm nicht wie alle Morgen mit Alli entgegen, ich verharrte still, um mir weiteres nicht entgehen zu lassen. Nach einer Weile kam Postbote Lutterbüse aus unserem Hause zurück — mit einem ernsten, stillen Gesicht. Er hatte beide Hände auf seiner Holster gefaltet, und die Mütze setzte er eben wieder auf. Es dauerte nicht lange, da trat der Vater zu uns an den Wagen. „Nun hat sie der liebe Gott geholt, die Schwester", sagte er mit beklommener Stimme und ging schon wieder „War er denn da? Ich hab ihn aber gar nicht gesehen!" Der Vater hörte schon nichts mehr, und ich saß mit Alli in der größten Ratlosigkeit.
Der liebe Gott war im Hause. Ich hatte nur Lutterbüse hineingehen sehen. Sollte er - sollte er der liebe Gott sein? Der lange blaue Rock, der ihn umwehte, wenn ein Wind sich aufgetan hatte, die goldenen Knöpfe, die mächtige Mütze, das schneeweiße Haar — ja, es konnte gut möglich sein, ganz gewiß, der Postbote Lutterbüse war der liebe Gott! Alli glaubte es auch, er bestätigte es durch leises Bellen.

Wen sollte ich weiter um eine Bestätigung angehen? Da kam das „Nädelchen", die kleine, verwachsene Weißnäherin mit dem Vater.

Er hatte sie wohl ins Haus geholt. Als sie in der Stube über ihrer Arbeit saß, schlich ich mich zu ihr, nahm mir ein Herz und sagte, die Tränen nur mühsam zurückhaltend: „Nun hat sie der liebe Gott geholt!" „So ist es, und ich näh' ihr das Totenhemdchen." „
Du kommst zu spät. Er hat sie doch in der Holster fortgetragen. Der Postbote Lutterbüse ist der liehe Gott, ganz sicher." „Du ösige Jung, schäm' dich! Der und der liebe Gott! Dein totes Schwesterchen liegt noch oben in der Kammer. Übermorgen tragen wir sie auf den Kirchhof. Der liebe Gott hat nur ihre Seele zu sich genommen." „Ihre Seele? Was ist denn das, Nädelchen?" „Das ist - das ist - Junge, das ist so wie ein Hauch - so wie ein Duft aus wunderbaren Blüten . . ."

Das arme verwachsene Menschlein schloß die Augen und sann für sich hin, Ich aber war in neue Ratlosigkeit gestoßen. Schließlich aber kämpfte ich mich doch wieder zu der Erkenntnis durch, daß es Lutterbüse gewesen sei, der sie geholt hatte. Wenn die Seele so wenig war, dann erst recht konnte Postbote Lutterbüse sie in seiner Holster forttragen. Hatte er nicht fromm die Hände über seine Last drinnen zusammengeschlagen? Er war der liebe Gott!

Mein Glaube an ihn währte etliche Tage, dann ging er jäh zu Bruch. Ich war mit der Mutter auf dem Felde. Ich half ihr, Rüben aus dem Acker zu. ziehen. Ich fröstelte — das Laub war bereits leicht gefroren oder vom Rauhreif behangen. Wir bückten uns eifrig zur Erde, da hörten wir von fern eine singende Stimme. War das nicht, obschon sie ein wenig anders als sonst klang, war das nicht die von Lutterbüse? Und kam er nicht selber drüben an? Aber wie war das nun mit ihm: er schwankte auf beiden Füßen er schoß von einem Straßengraben zum ändern. Die Holster hing ihm auf dem Rücken. Der Schirm seiner Mütze saß ihm im Nacken,

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„Alle Tage Wein vom Rhein, ei, da würd' man fröhlich sein. Wein vom Rhein, Wein vom Rhein!"
So hörten wir ihn- „Der liebe Gott —" Das Wort wagte sich nur halb aus meinem Munde. Die Mutter hatte es wohl kaum vernommen. Nein, der da, der da kam, konnte nicht der liehe Gott sein! Wieder einmal erlebte ich eine Enttäuschung in dieser wunderlichen Welt, und diesmal ging sie meinen Glauben an. „Im Dorf, auf dem Holthofe, ist heute Hochzeit. Da hat man dem Wackeren, da hat man dem Postboten Lutterbüse ein wenig zuviel ins Glas geschüttet. Dat hat's ihn nun!" „Und er ist wirklich nicht, er ist ganz sicher nicht der liebe Gott, der die kleine Schwester geholt hat, Mutter?" Sie sah mich an, griff meine Hand und fühlte, daß sie vor Kälte zitterte. Sie fuhr über meine Stirn, die aber glühte. „Du wirst mir krank, du wirst mir auch noch krank", sagte sie entsetzt.

Bei dir sagt sich das Fieber an. Las uns aufladen und eilig nach Hause fahren!" Ich lag eine Woche krank in der Kammer.

 

Dann wurde alles gut. Es wurde auch mit dem lieben Gott gut. Ich setzte den, Postboten Lutterbüse wieder in seine alte Ordnung ein und gab ihm den Rang zurück, der ihm gebührte. Es war kein minderer Rang, Mittelsmann zu sein zwischen dem Dorf und der Welt. Alle Morgen, liefen Alli und ich ihm entgegen. Der Braune erwies ihm wie ich Respekt und hatte es nicht nötig, auf die Spitze seines Eichenstocks verwiesen und mit dem bedient zu werden, was sich vom Priemchen im Munde Lutterbüses erübrigte. Ich ließ mir willig den aus der Mütze quellenden Teil meines Haarschopfes kraulen, nahm das Kreisblatt entgegen und was sonst an uns gelangte und hörte den Blaurock bald vor der Nachbartür rufen: „Neueste Nachrichten! Neueste Nachrichten, frisch wie warme Kuhmilch! Und 'nen schönen guten Morgen auch!"
                                                                                                                                                         Aus: Westfälischer Heimatkalender 1970, S.19-23.