Den römischen und griechischen Schriftstellern verdanken wir die Kenntnis der germanischen Völkerschaften, die zu Beginn unserer Zeitrechnung das spätere Westfalen bewohnten. Die drei größten Stämme waren die Herusker, die Marsen und die Brukterer. Die Herusker besiedelten das Weserbergland und das Gebiet bis zum Harz und der Oker. Die übliche Schreibweise Cherusker ist von den Römern übernommen worden. Das Ch in der römischen Benennung soll das stark anlautende H ersetzen, das im Lateinischen unbekannt war, wie heute noch in seinen Abkömmlingen, den modernen romanischen Sprachen, z. B. dem Französischen. Auch im Russischen, dem das H ebenfalls fehlt, wird es durch Ch ersetzt.
Die Marsen wohnten südlich der oberen Lippe und im Sauerlande, die Brukterer im Münsterlande und dem Osnabrücker Berglande. Um dieses von den Heruskern, Marsen und Brukterern besetzte westfälische Kerngebiet siedelten andere, meist kleinere germanische Völkerschaften. Alle waren untereinander durch Blut, Sprache und Kultur nahe verwandt. Doch jeder Stamm behielt seine völlige Selbständigkeit. Nördlich der Herusker, durch einen Grenzwall von ihnen getrennt, lebten die Angriwaren. Die südlichen Nachbarn der Herusker und der Marsen waren die Hatten (Chatten), die späteren Hessen, ein kriegstüchtiger, mächtiger Stamm. Im äußersten Nordwesten des heutigen Westfalens saß der kleine Stamm der Tubanten. Südlich von diesen, im westlichen Münsterland hatten die Hamawen (Chamawen) ihre Wohnsitze, an der unteren Lippe und Ruhr die Hattuaren (Chattuaren), an die später der Gau Hatterun und heute noch anscheinend die Stadt Hattingen erinnert. Westlich und südlich des Hattuarenlandes wohnten zwischen Sieg und unterer Lippe die Sigambrer (Sugambrer).
Die verschiedenen Germanenstämme des nordwestdeutschen Raumes zu Beginn unserer Zeitrechnung.
Als direkte Nachbarn der links des Rheines sitzenden Römer wurden sie diesen in zahlreichen Kämpfen gefährlich, bis sie, durch die Kämpfe dezimiert und geschlagen, von den Römern in das Gebiet des linken Niederrheins umgesiedelt wurden. Ob es sich dabei um eine Verpflanzung des gesamten Stammes gehandelt hat, ist allerdings zweifelhaft; es sollen 40000 Menschen umgesiedelt worden sein.
Nachdem Julius Caesar in den Jahren 58—51 v. Chr. die linksrheinischen Gallier und die diesen benachbarten Germanenstämme unterworfen hatte, war der Rhein die Grenze zwischen den Römern und den freien Germanen geworden. Der römische Kaiser Augustus schob in den Jahren 38-11 v. Chr. die Grenze des römischen Weltreiches nach Norden bis zu den Ufern der Donau. Aber der Schutz der fast rechtwinklig einspringenden Grenze an Rhein und Donau erforderte sehr viele Truppen. Deshalb plante der Kaiser, Germanien bis zur Elbe zu unterwerfen und die Verteidigungslinie in geradem Lauf längs der Elbe und durch Böhmen bis zur Donau gehen zu lassen.
Das Unternehmen schien geglückt zu sein, als in zahlreichen Feldzügen der Jahre 11 v. Chr. bis 5 n. Chr. die Völker zwischen Rhein und Elbe mehr oder weniger unterworfen waren. Das Land wurde römische Provinz, erhielt römisches Recht, zahlte Steuern an die Römer und stellte dem römischen Heere Hilfstruppen. Hauptsächlich aber die Einführung des römischen Strafrechtes, rücksichtslose Steuererhebung und der Hochmut der Römer brachten die Gemüter der Germanen in Wallung. Im Jahre 9 n. Chr. kam es zu einem Aufstand. Die germanischen Stämme hatten erkannt, daß der Verlust der Freiheit schwerer wog als die ins Land gebrachte bewunderte römische Zivilisation. Seele des Aufstandes waren die Herusker unter ihrem jugendlichen Anführer Arminius. Arminius ist der römische Name. Wie er daheim hieß, ist nicht bekannt, vielleicht Erminrich oder Erminfried. Zusammen mit seinem Bruder Flavus (der Blonde) hatte Armin selbst als Führer germanischer Hilfstruppen im römischen Heere gedient, die römische Kriegskunst kennengelernt, war römischer Bürger geworden und hatte die römische Ritterwürde erlangt. Während sein Bruder ganz zum Römer wurde, kehrte Armin in die Heimat zurück und entfachte den Aufstand. Die Brüder sollen sich später im Kampfe gegenübergestanden haben.
Der Aufstand griff auf die benachbarten Stämme, besonders die Brukterer, Angriwaren, Marsen und Hatten über. Die Friesen, Ampsiwaren (an der unteren Ems) und Hauken (zwischen der unteren Elbe und Weser) blieben den mit den Römern geschlossenen Verträgen treu. Selbst unter den Heruskern gab es eine den Römern ergebene Partei.
Der lange geschmiedete Plan kam im Herbst des Jahres 9 n. Chr. zur Ausführung. Der römische Feldherr Varus stand mit drei Legionen an der unteren Weser. Armin und viele germanische Edle fanden sich in seinem Lager ein und wiegten ihn gegen die Warnungen der germanischen Römerfreunde in Sicherheit. Auf Verabredung erhob sich ein entfernt wohnender Germanen-Stamm, wahrscheinlich die Hatten. Mit seinem 20000 Mann starken Heere brach Varus gegen die Aufständischen auf. In unwegsamem Waldgebiet, man vermutet im Teutoburger Wald bei Detmold, fielen die Germanen über die in langer Marschkolonne mit viel Gepäck ahnungslos marschierende Streitmacht her. Sturm und Regen machten die Lage der sich verzweifelt wehrenden Römer noch aussichtsloser. Dennoch dauerte das Ringen drei Tage, dann brach der Widerstand zusammen.
Römerlager zwischen Rhein und Teutoburger Wald
Der Feldherr Varus stürzte sich in sein eigenes Schwert. Das gesamte römische Heer wurde restlos vernichtet, nur ganz wenigen Soldaten gelang es, dem Gemetzel zu entkommen und sich zu einem römischen Kastell, vermutlich dem bei Haltern, durchzuschlagen. Anschließend wurden alle römischen Kastelle rechts des Rheines mit Ausnahme des von Haltern überrannt. Mehrere Monate belagerten Armin und die Seinen das Halterner Kastell, dann schlug sich die römische Besatzung nachts zum Rhein durch. Groß war die Bestürzung in Rom, man befürchtete einen Ansturm der Germanen über die Alpen und setzte die römische Hauptstadt in Alarmbereitschaft. Doch der Angriff blieb aus.
In den folgenden Jahren versuchten die Römer noch einmal ihr großes Ziel, die Unterwerfung Germaniens, zu erreichen. Sehr zögernd und vorsichtig waren die ersten neuen Schritte ins Germanenland. Wechselnd war das Kriegsglück. Zäh und verbissen lieferten die Germanen unter der Führung Armins den an Zahl und Ausrüstung weit überlegenen Römern manche Schlacht. Im Jahre 16 n. Chr. wurde das Ziel der Unterwerfung Germaniens endgültig aufgegeben. Eine Gefahr für das römische Weltreich wurden die Germanen dennoch nicht - noch nicht - dafür sorgte ihre eigene Uneinigkeit. Stamm kämpfte gegen Stamm, wobei nicht selten sicherlich auch die Römer ihre Hände und ihr Geld im Spiele hatten. Ja gerade die Herusker hörten nicht auf, sich selbst zu zerfleischen.
Armin, der versucht haben soll, seine Erfolge zur Errichtung eines eigenen Königtums zu nutzen, wurde im Jahre 19 n. Chr. im Alter von 37 Jahren von seinen Verwandten erschlagen. Die geschichtliche Tat Armins liegt darin, daß er Germanien von den Römern befreite. Er verhinderte, daß Germanien römische Provinz wurde. Ohne dieses Ereignis wäre die deutsche Nation sicher nicht geworden, sondern das germanische Wesen wäre in dem römischen wahrscheinlich so aufgegangen, wie westlich des Rheines das keltische von dem römischen aufgesaugt wurde und sich eine romanische Nation bildete, die französische. Wir können also mit Stolz als ersten großen Sohn Westfalens Armin den Herusker nennen, der auch der erste große Deutsche ist. Jakob Grimm glaubte in Armin den Siegfried des Nibelungenliedes wiedergefunden zu haben.
An dem vermutlichen Ort der entscheidenden Schlacht - auf der Grotenburg bei Detmold im Teutoburger Wald - ist ihm als „Hermann dem Cherusker" ein monumentales Denkmal gesetzt worden. Operationsbasis für die römischen Unternehmungen in das nordwestdeutsche Gebiet war die starke Festung Castra Vetera, das heutige Xanten am Rhein. Von dort führte eine feste Heerstraße am Nordufer der Lippe weit ins germanische Land.
Wahrscheinlich wurde auch die Lippe selbst als Nachschub- und Transportweg mitbenutzt. Eine Reihe von Uferkastellen an der Lippe diente zur Sicherung der militärisch hochwichtigen Straße. Von diesen befestigten Römerlagern konnten neben Castra Vetera an der Lippe zunächst drei weitere Lager festgestellt werden. Es sind dies die Lager Holsterhausen bei Dorsten, das Lager Haltern und das Lager Oberaden bei Lünen. Aus ihrer Lage kann man annehmen, daß die Marschleistung der römischen Truppen etwa 20 Kilometer pro Tag betrug. Danach wiederum ist die Annahme berechtigt, daß in Westfalen noch einige Römerlager unentdeckt geblieben sind. Das Römerlager in Holsterhausen bei Dorsten wurde erst 1952 entdeckt, als bei Baggerarbeiten zum neuen Hambachbett ein großer römischer Krug, eine sogenannte Spitzamphora, zutage gefördert wurde.
Tatsächlich wurde 1968 beim Ausheben einer Rübenmiete ein weiteres Römerlager am Ufer der Lippe entdeckt, und zwar in der Gemeinde Anreppen im Landkreise Buren. Alle bekannten Römerlager an der Lippe liegen in kultiviertem, dichtbesiedeltem Gelände. Nur der Spaten des Fachmanns war in der Lage, dem Boden sein geschichtlich äußerst wichtiges Geheimnis zu entreißen. Doch es gibt eine abgelegene Stelle, an der die Römer ihre in Westfalen auch für den Laien am deutlichsten sichtbaren Spuren hinterlassen haben. Es ist das an strategisch hochbedeutender Stelle errichtete Römerlager von Kneblinghausen bei Ruthen an der Möhne.
Aus: “Unbekanntes Westfalen” von Dieter Steinhoff, 7/8. Auflage, Münster 1981. Mit freundlicher Genehmigung der Aschendorffsche Buchdruckerei, Münster. (Das Buch ist nicht mehr im Handel erhältlich)
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