Mutter der Mitte: die Lippe

Von Heinrich Luhmann

Mutter der Mitte unseres Landes ist sie immer gewesen, die Lippe. Einst schon in grauer Frühe, als sie Marsen und Brukterer schied. Jetzt, da sie auf weiten Strecken die Grenze zieht zwischen dem südlichen und nördlichen Westfalen. Sie gibt sich nicht groß, sie täuscht nichts vor. Sie prunkt nicht mit stolzen Bergen und glanzvollen Städten an ihren Ufern. Aber sie trägt schon von Jugend an die Spuren ernster Arbeit im Angesicht.   Durch meine Kindheit ging sie wie eine rüstige Bäuerin. Sie kam von den Weiden und Kämpen, den Merschen und Mehren her, die im Morgenlicht glänzten - da im Osten mußte Lippstadt liegen und weiter Lippspringe, die Welt ihres Ursprungs. Der Rauch von Kühen und weidenden Rindern war mit ihr, das Klirren von Melkeimern, der Duft von frischem Gras und jungem Heu. Gewiß, auch damals schon ließ fünf Stunden weiter, nach Westen, bei Hamm, der Rauch seine Fahnen über sie wehen. Fördertürme hoben sich da an ihren Ufern, und Maschinen dröhnten das Lied einer anderen Welt in ihr Ohr. Bei uns aber, auf der ersten Hälfte ihres Wanderweges, hüllte sie noch Stille ein, große, fast feierliche Stille. Auch heute herrschet sie zwischen Hamm und Lippstadt noch viele, viele Stunden und legt über ihre Ufer die Friedlichkeit eines immerwährenden Sonntags. Der Kanal, den man ihr vor dem ersten Weltkrieg zur Seite graben wollte, drang nur eben über Hamm hinaus. Dort geht das Kraftwerk „Westfalen" bei Schmehausen mit seinen weit verzweigten Anlagen der Vollendung entgegen. Weiter im Osten blieb die Lippewelt unversehrt wie vor hundert - vor tausend Jahren!

Das Leben der Menschen dort ist auch in unseren Tagen ohne das „Wasser", ohne die Lippe kaum zu denken. Wenn sie auch in diesem Gebiet kaum einem größeren Werk der Industrie nutzbar wird, keine Lasten trägt, nicht einmal mehr in dem Maße wie einst Mühlen treibt, so ist sie den Bewohnern ihrer Ufer doch wie ein lebendiges Wesen verbunden. Es hat sich an dem Einst nichts geändert: Wir lieben sie, wir ehren sie, wir furchten sie. Sie nährt uns mit, sie ist uns gut, sie kann böse sein. Sie erzählt uns Geschichten, und sie hüllt sich in den Eismantel ihres winterlichen Schweigens. Sie ist ein Teil von uns.

Was gab es Köstlicheres als die sommerlichen Stunden des Sonntags, wenn man im Ufergebüsch hockte und der Angel im Wasser zusah! Der Bleier, die Lockspeise, zog wie ein Silberstreifen ein paar Handbreit unter dem grünen Spiegel sein trauriges Hin und Her. Die Tiefe barg wahre Schätze an Hechten, Barschen, Bremsen, Aalen und Quappen. Aber man hätte schon geschicktere Hände haben müssen und kein Träumer sein dürfen, um ihrer in lohnender Weise Herr zu werden. Was schadete es! Im hohen Gras der Wiesen zirpten die Zikaden und läuteten die Hummeln. Dann und wann gab ein wiederkäuendes Rind unterm Dornbusch Laut, Schwalben schössen aus blauem Himmel nieder und haschten nach Mücken über der Flut. Ein Wasserhuhn, das dünne Weidenzweiglein im Schnabel, hing schlafend in der unbewegten Tiefe. Pan regierte die Stunde. Man war aus der Welt, aus aller Zeit geglitten. Es gab erst ein Erwachen, wenn vom Dorfkirchturm die Glocke zur Christenlehre rief und daran erinnerte, daß der Pfarrer an diesem Nachmittag Rechenschaft von einem über die sieben Gaben des Heiligen Geistes forderte. Im Enthasten suchte man ihrer habhaft zu werden, brachte es aber nur auf vier, saß schuldbewußt in der kühlen Kirche und war erst wieder Mensch, wenn man die Angel aufs neue einsenken konnte und die Freiheit mit tiefen Zügen schlürfte...! Unvergessen auch die frühen Morgen im jungen Mai. Da galt es, die Netze zu ziehen, die über Nacht im Wasser gestanden hatten. Und hier vermochte man oft das kühle, nach Tiefe und Grund riechende Leben aus dem Garn zu lösen, in dem es sich verzappelt hatte. Kaum je tat man es, ohne bewegt zu sein von dem Geheimnis, das es umgab, von der Stummheit und Fremdheit dieser Geschöpfe, denen das eine Element Leben, Erde und Luft Tod bedeuteten.

Die Dörfer haben in der Nähe des Flusses nicht zu gründen gewagt. Erst jenseits des Gürtels der Wiesen, der die Ufer zu beiden Seiten einfaßt, kuscheln sie sich in die Ackerflur und in die Büsche, die wie verstreuter Samen überall aufgegangen sind. Die Wiesen haben das Land schon immer vor Armut bewahrt. In unserer Zeit verleihen sie ihm besonderen Wohlstand. Die Lippe verhütet Dürre und Trockenheit. Sie kann aber auch heute noch, trotz aller Versuche, ihre Oberfülle zu bannen, vor der Mahd alle Hoffnung vernichten, Wasser und Schlamm auswerfen, die den Wert des Futters mindern oder ganz vernichten. Die Winterüberschwemmungen sind in dieser Gegend oft noch ein Schauspiel von großartiger Schönheit. Die schmale Rinne des Flusses, sonst kaum mehr als 13 bis 15 Meter breit, aber tückisch tief, erweitert sich zum See, der bis an die Dörfer vordringt und ihr Aussehen fast magisch verwandelt. In meiner Kindheit legte der Frost manchmal das ganze Tal wie mit Silber aus. Wir fuhren mit Schlittschuhen viele Stunden nach Osten und Westen auf der spiegelglatten Fläche hinaus. Dabei zeigte sich uns das Gesicht der Heimat in besonderer Weise. Fast grenzenlos schien die Weite. Von Osten nach Westen die langgestreckte Senke des Flußtales, wie es sich vor undenklichen Zeiten gebildet hatte. Im Norden das Münsterland mit Einhöfen, Bauerschaften und Dörfern. Am Horizont verdämmerten die Wälder um das Galensche Schloß Assen. Der Wartturm auf dem Höxberg bei Beckum zeigte sich in der klaren Winterluft deutlicher als an anderen Tagen. Im Süden das Bauernland, das langsam in die Soester Börde überging. Der stumpfe Klotz einer Kirche hier und dort, die Kuppel Sankt Stephans zu Oestinghausen und weiter, jedoch nur zu ahnen, die Wunder von Soest, deutlich aber die Helle der Haar. Wir glitten hin über die Weite, die nur dann und wann von einem der schmalen Bäche durchpflügt wird, den das flache Land der Lippe hier sendet. Kopfweiden, phantastisch gestutzt, standen überall wie erfrorene Gespenster in dem riesigen Eisfeld. Büsche wie Frauen in weiten, wunderlich zerzausten Mänteln. Die Zaunpfähle ragten nur eben mit den Köpfen aus der Eisdecke. Wildenten und Wildgänse, die Hälse gereckt, die Flügel gespannt und seltsame Formen in der Luft annehmend, strichen über uns hin und warfen ihre Rufe nieder. Ab und zu im Blockeis vom Fluß oder Zufluß der blaue Blitz eines Eisvogels. Wir fuhren an Dörfern vorbei, und die sonst fernen waren uns nahegerückt, aber sie gaben sich verzaubert: Herzfeld mit dem weißen Dom Sankt Idas, Schloß Hovestadt am uralten Wasserübergang - jetzt umklirrte sie Eis! Das große Rad der Mühle zu Keslarn hing stumm und starr in der Kristallwoge, zu der das Wasser geworden war. Schleusen und Wehre hatten Rast. Wir wähnten uns der alten, ehrwürdigen Königin am Fluß, Lippstadt, nahe. Wir hätten uns im Westen, an den Wasserschlössern Üntrop und Oberwerries vorbei, bis in die Nähe Hamms auf unseren eisernen Schuhen vorwagen können. Aber die Wintertage waren zu kurz. Die Dämmerung sank früh. Und wer wußte, ob nicht einer der Weidenstumpen aus seiner Stummheit erwachen und sich als „Grüggel" geben würde, als Ungeheuer? Immer noch erzählte man in den Abendstuben von ihnen. Auch von unserem „Wasser" wußte man Dunkles und Unheimliches genug.

Daß sich mancher den Tod getrunken habe, wenn er sich leichtfertig in ihre Strudel wage, das wurde den Kindern ohne Ermüden mit auf den Weg gegeben! Wir erfuhren auch, wenn eine Leiche antrieb und geborgen wurde. Dann umschlichen wir das Spritzenhaus am Dorfeingang, in dem sie aufbewahrt war, klopfenden Herzens, immer wieder nach dem Woher und Warum rätselnd und nicht eher Ruhe findend, bis sich der einsame Hügel auf dem Kirchhof wölbte. Der Vater erzählte vom „Wassermann" - so nannte man einen Seiler, der in der letzten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts von Hof zu Hof ging und Fangnetze anbot, die Fuken und Bungen. Der saß einmal mit der Angel an der Lippe, als ein Toter getrieben kam. Um ihn nicht der Gemeinde zur Last werden zu lassen, stieß er ihn mit der Rute an das andere Ufer - und es war doch sein eigenes Kind: seine Tochter, die ihren Verlobten und dessen Eltern in Lippstadt aufgesucht hatte und aus nie geklärten Gründen ins Wasser geraten war! Ein Bauer, der seinen Knecht im Zorn erschlug und dann versenkte, irrte bis in sein eisgraues Alter am Ufer hin. Seine Tat hatte vor dem irdischen Richter keine Sühne gefunden, immer, wenn er sich selber den Tod geben wollte, fand sich eine Hand, die ihn wieder aus dem Wasser riß. Er büßte dadurch, daß er nicht sterben konnte - lange wenigstens nicht, über die gewöhnliche Lebenszeit hinaus! Und da saß unterm Bogen der Brücke vor Lippborg schon hundert Jahre die habgierige Gutsfrau. Sie hatte zu ihren Lebzeiten die Mägde betrogen mit falschem Maß. Sie gab zuwenig Linnen und Federn als Lohn für ihre Dienste. Nun hörte man sie in den Nächten klagen:

„Kuort lälle, smal Linnen un Fiärveuh

 doit moiner armen Siäle weuh!"

Wir ließen uns lieber freundlichere Bilder malen, wenn es darum ging, in die Vergangenheit zurückzuschauen. Da erzählte man uns, daß zu den Zeiten um Christi Geburt die Römer auf der Lippe gefahren und auf dem sie an unserem Ufer begleitenden „Hillweg" gezogen seien, um tiefer in das Land bis zur Weser vorzustoßen. Es war nicht schwer, im Geiste die Schiffe gleiten und den vielen Schleifen und Windungen folgen zu sehen. Nicht selten legte sich ein grauer, dicker Nebel über den Fluß - „Biesekater" geheißen -, er drang bis an die Dorfhäuser vor, und gerade dann wurde deutlich, welche Macht das Wasser über das Tal hatte. Am lichten Tag war man etliche Male dabei, wenn beim Sandgraben seltsame Dinge ausgebaggert wurden: Waffen, Becher, anderes Gerät, das Gehörn eines vorzeitlichen Tieres, wohl eines Elens von gewaltiger Größe - hier am Ufer war es gegangen, in unserem Garten, der nur tausend Knabenschritte vom Wasser entfernt war, mochte es unter den Bäumen ein Büschel Gras gerupft haben! Wenn ein Stück Holz nach oben gelangte, ein Teil vom Eichenstamm, war es schwarz wie das Ebenholz im Märchen und so hart, daß die Axt sich stumpf an ihm biß. Gerade in dem, was sie in der Vergangenheit gesehen und in sich barg, war uns die Lippe geheimnisvoll, jetzt nicht als die spendende oder zürnende Mutter, sondern als die geschichtenraunende Ahne mit den Augen, die um die verborgenen Dinge vieler tausend Jahre wußten.

Zu Ende des letzten Jahrhunderts gab es in unserer Gegend noch einen Stand, der dem Flusse in besonderer Weise verbunden war: die Kripper. Sie hatten die Aufgabe, überall da, wo das Wasser die Ufer unterhöhlte und nach Land begierig war, seiner Unbotmäßigkeit Einhalt zu tun. Sie füllten die angefressenen Böschungen mit Domen- und Reisigbündeln aus, rammten Pfähle ein und verhafteten sie mit dem Boden. Darüber hinaus flochten sie von Pflock zu Pflock Weidenwerk, gaben Erde dazu und verliehen den Ufern eine Art Mauer: Heute schafft man durch sachgerechte Bepflanzung natürlichen Schutz, das Wurzelgeflecht verdichtet sich von selbst und bildet eine lebendige Abwehr. Die Kripper waren sehr oft in der Einsamkeit am Wasser, im ständigen Kampf mit dem Element und im Einklang mit der Natur zu schweigsamen, stillen Menschen geworden, in einzelnen Fällen wohl auch mit der Gabe des „Zweiten Gesichts" belastet. Einer von ihnen hatte sich so an das Wasser verloren, daß man, als er alt geworden war, eine Strecke weit hinter seinem Garten und Acker einen Zaun am Ufer ziehen mußte, um ihn vor dem Hineingehen in das Element, dem sein Leben gehört hatte, zu bewahren. Die Kripper fuhren ihr Gebiet auf einem ungefügen Boot ab. Sonst näherte sich unserer Gegend kaum noch etwas, was einem Schiff ähnlich sah. Ganz selten, dann aber von der ans Ufer eilenden Jugend aufs höchste bewundert, glitt das weiße Dampfboot der Flußbaubehörde aus Hamm oder Lippstadt den Weg zwischen den grünen Wiesen hin. Die alten Leute wußten noch zu berichten, wie es in den Tagen ihrer Kindheit war. Da brachte die Lippe Korn, Holz und Steine in die Dörfer. Dann wurde es still. Ruhe, urweltliche Ruhe fast, nahm Besitz von ihr. So ist sie hier in der Mitte, die Mutter des Landes!

Dann aber - wer wüßte es nicht - erwacht sie in den lauten Tag einer Wirklichkeit, deren Träume um Kohle und Stahl kreisen. Mit der Schwester Ruhr teilt sie sich nun in die Mutterpflichten eines Landes, das nicht mehr Westfalen allein, das Europa und dei Welt gehört. Längst hat ihr Angesicht die Züge angenommen, die Ernst und Kraft und Kühnheit großen Planens und Schaffens ihm aufprägten. Und so erfüllt sich ihr aus der Still« kommendes Leben im tätigen Tag, ehe es der große Strom bei Wesel in seine Ruhe aufnimmt.

                                                                                                     Aus:  “Heimatkalender des Kreises Soest, 1965”